IMPULS ZUM 2. FASTENSONNTAG: DER BRENNENDE DORNBUSCH

Ich sehe im Hintergrund in der Mitte einen hellen Streifen, durch den das Licht von außen ungebrochen einfallen kann und der sich vom Boden des Fensters bis nach oben erstreckt. Graue, anthrazitfarbene Streifen rechts und links begrenzen ihn. Auch sie reichen vom Boden des Fensters bis nach oben. In dieses Grau hinein und vor dem hellen Streifen erstrecken sich im Vordergrund spitze dornige Äste und Zweige eines Baumes oder Busches. Teilweise lang, dünn, gefährlich spitz schauen sie aus und strecken sich nach oben. Warme Farben von verschiedenen Grüntönen, erdfarbenen Braun- und Gelbtönen mildern die Spitzen und Dornen und lassen Blätter erkennen.

Es ist der Dornbusch, den wir aus dem AT, dem Buch Exodus kennen: Moses hütet die Schafe seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian, auf dem Berg Horeb, als er einen Dornbusch sieht, der brennt. Nichts Ungewöhnliches in der Wüste; aber der Dornbusch verbrennt nicht! Als er näher tritt, hört er eine Stimme und er spürt: Er ist auf heiligem Boden! Die Stimme spricht ihn an, ihn, Mose, mit seiner Lebensgeschichte - und gibt ihm den Auftrag, nach Ägypten zurück zu kehren, um sein Volk aus der Knechtschaft heraus zu führen. Als Moses  fragt, wie er das tun soll, nennt die Stimme ihm ihren Namen: Ich bin Jahwe; ich bin der ICH BIN DA !
Der Name ist nicht nur ein Name; er ist eine Botschaft, ein Programm. Es bedeutet: Ich bin bei dir, Moses; ich begleite dich, ich gehe mit dir! Egal was dir geschehen wird: Ich bin da!

Was sehen wir in dem Kirchenfenster? Auf die spitzen dornigen Zweige fallen/schweben von oben tropfenförmige Gebilde. Ins Auge sticht die rote Farbe, die dem ganzen Fenster die Leuchtkraft und Lebendigkeit verleiht. Rot ist die Farbe des Feuers, die Farbe der Lebenskraft und Lebendigkeit. Feuer fällt vom Himmel, der Dornbusch brennt! Aber er verbrennt nicht! Die Feuerzungen sind, ebenso wie das Halbrund oben am Fenster, Zeichen für Jahwes, für Gottes Gegenwart: Ich bin der ICH BIN DA! In das Grau des Seitenstreifens und auf die Dornen, beides könnte das Elend und Leid des Volkes Israel darstellen, fallen die Feuerzungen, fällt die Botschaft des Namens Gottes: Ich sehe euer Leid; ich bin da! Ich bin bei euch! So ein Fenster in einer Kirche will etwas zum Ausdruck bringen, es hat eine Botschaft. Was könnte für uns diese Botschaft sein?
Solch graue, schwarze Zeiten, wie die Israeliten sie erlebt haben, dornige verletzende Lebenserfahrungen, machen Menschen zu jeder Zeit. Schreckliche, traumatische Erfahrungen, die sich niemand aussucht und denen wir uns nur zu gerne entziehen würden. Und dann hören wir heute im Evangelium von einer ganz anderen Erfahrung, die man gerne festhalten möchte.

So auch die Jünger. Auf den Berg sind sie mit Jesus gestiegen. Dort machen sie eine unglaubliche Erfahrung: Jesus wird vor ihren Augen verwandelt! Und obwohl sie sich fürchten, wollen sie da bleiben, wollen sie Hütten bauen, die Faszination festhalten. Da hinein hören sie eine Stimme von oben. Sie bezeugt Jesus als seinen geliebten Sohn. Auf ihn, auf seine Botschaft, auf sein Leben sollen sie schauen; das heißt: danach sollen sie leben! Aber das können sie nicht auf dem Berg, in der Verklärung. Das muss sich im Alltag zeigen, beweisen. Sie müssen – wie Moses – hinunter vom Berg, zurück in den Alltag. Aber sie sind nicht allein: Jesus, der geliebte Sohn des ICH BIN DA, geht mit ihnen. Hinein ins Leben!
Da, wo auch wir uns befinden: mitten im Leben. Da, wo auch wir konfrontiert sind mit all den spitzen und dornigen Erfahrungen von Trauer und Schmerz, von Ungerechtigkeit und Hass, von Krankheit und Leid, von Verletzungen physischer und psychischer Art, mit Hunger und Durst, mit Abschieden und Tod, mit Verletzungen der menschlichen Würde.
In all diese dornigen spitzen Lebenssituationen, die oft so hoffnungslos und ausweglos erscheinen, da hinein brauchen wir etwas, das uns hält; das hilft, weiter zu machen; das aufrichtet, nach vorne blicken lässt.
Vielleicht ist es die helfende Hand einer Freundin oder eines Freundes, einer Mitschwester; ein aufrichtiges offenes Gespräch; ein versöhnendes Wort; eine Petition von amnesty international; das Anerkennen des Leides; ein Du auf Augenhöhe. Dieses menschliche Miteinander tut unheimlich gut und ist so wichtig. Und hilft manchmal zu überleben. Wir brauchen einander.

Und diese zwischenmenschlichen Erlebnisse weiten den Blick und lassen etwas Größeres durchscheinen: Für mich ist es genau diese Zusage Jahwes im Dornbusch, die nicht nur dem Moses gilt, sondern uns allen: Ich bin da! Ich bin bei dir! Ich bin bei dir in deiner Zeit! Ich bin bei dir in deinen Tränen! Ich bin bei dir in deiner Freude! Ich bin bei dir in deiner Angst! Ich bin bei dir in deiner Not! Ich lass dich nie allein! ICH BIN DA!
Welch eine tröstende, aufrichtende Botschaft dieses Kirchenfensters! Wenn menschliche Kraft versagt: Gott ist da!
Dies schmälert in keiner Weise unser menschliches Miteinander. Im Gegenteil: Wenn ich aus diesem Urgrund, diesem Urvertrauen, dieser Botschaft der Freude und Liebe lebe, dann kann ich mein Herz weit machen und selbst da sein für andere.
Ein Punkt beim Betrachten des Kirchenfensters ist mir noch wichtig: Es ist die Stelle, an der das Fenster seinen Platz hat im Kirchenraum. Wenn wir die Kirche betreten, ist es das erste Fenster, das wir als Ganzes sehen. Es begrüßt uns mit der Botschaft: ICH BIN DA! Komm herein!
Und beim Verlassen der Kirche ist es das letzte Fenster und entlässt uns mit der Botschaft: ICH BIN DA! Ich geh mit dir in dein Leben!

Claudia Graff-Ruhrort
(Mitglied der Gemeinschaft Lebensbaum)

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